Kirche, wozu?

Maria Herrmann
7 min readJan 21, 2023

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Vortrag beim Neujahrsempfang des Diözesanrats der Katholik*innen im Bistum Hildesheim am 21.1.2023. Es gilt das gesprochene Wort.

Foto von Marija Zaric auf Unsplash

Kirche, wozu?

Vielen Dank, dass ich heute mit Ihnen über diese Frage nachdenken darf.

Ich möchte das in drei Schritten tun. Kirche, wozu?

In welcher Situation stellen wir diese Frage? Das wird den ersten Schritt ausmachen. Wie lässt sich diese Situation beschreiben, begreifen, deuten? Das wird den zweiten Schritt ausmachen. Was lässt sich theologisch dazu sagen? Ein dritter Schritt.

Ein erstes also: Die Situation.

Ich möchte Sie nach Ihrem Frühstück heute morgen fragen. In Gedanken. Vielleicht sind sie von weiter angereist. Es war dann ziemlich sicher noch ganz schön dunkel, als sie die Kaffeemaschine oder den Wasserkocher angestellt haben. Gab es Milch zu Ihrem Frühstück? Welche Milch? Wonach entscheidet sich das? Ist schon alleine die Frage für Sie seltsam?

Für einen Teil der Gesellschaft ist (nicht nur) bei der Milch am Frühstückstisch der Preis ausschlaggebend. Für einen anderen sind ethische oder gesundheitliche Aspekte wichtig. Es gibt dann also eher einen Mandel- oder Haferdrink im Müsli, weil man auf tierische Produkte verzichtet. Für wieder andere stehen andere Umweltfragen im Mittelpunkt — z. B. bei der Herstellung wie der Entsorgung der Verpackung. Kauft man Milch im Pfandglas, um den Müll zu reduzieren? Kauft man Milch im Tetrapack, weil das Gewicht und somit Benzin spart? Manche versuchen eine gute Balance zu finden und entscheiden immer wieder neu. Vermutlich nur ein kleiner Teil der Gesellschaft wird auf die Milch der eigenen Tiere zurückgreifen können. Und für wieder einen anderen Teil der Gesellschaft ist diese meine Frage gar keine: es gibt Angebote oder jemand anderes kauft ein — oder es gibt die Milch, die es schon immer gab. Oder es gibt keine Milch. Weil das Frühstück ausfällt oder ganz anders ist als continental.

Hier möchte genauer hinschauen. Sie haben hoffentlich einen Eindruck von Vielfältigkeit bekommen. Dazu kommt aber noch etwas anderes: Mehrdeutigkeit, Ambivalenz, Uneindeutigkeit wie bei der Umweltfreundlichkeit der Milch. Das interessiert mich. Es gibt z. B. nachweislich keine Eindeutigkeit, ob Milch im Glas oder Tetrapack besser ist für die Umwelt. Nun fragen Sie sich vielleicht: Was will sie damit sagen?

Ich habe mir die Milchfrage vom Soziologen Armin Nassehi ausgeliehen und etwas auf meine Weise ergänzt. Er verdeutlich damit in seinem Buch »Die letzte Stunde der Wahrheit«, wie komplex unsere Gesellschaft ist. Und führt das natürlich auch auf seine Weise noch weiter aus. — Etwas ist »komplex«, das sagt man schnell einmal. Aber was meint das?

Ein zweites also: Deutungsinstrument

Komplex meint, dass Dinge in einem Kontext stehen und nur als solche zu verstehen sind. Dass sie ganz viele Bezüge zu anderen Dingen haben – wie ein Netzwerk. Ein Netzwerk ist komplex. Vieles davon ist undurchschaubar und nicht direkt steuerbar. Wenn man an einem Ende zupft, weiß man nicht, was an den anderen Enden passiert. Komplex meint damit auch, dass Fragen oder Probleme die auftauchen, nicht lösbar sind. In jedem Fall nicht in einer Weise, die alle zufriedenstellt, und definitiv nicht direkt zwingend. Eindeutigkeit lässt sich nur mit Macht herstellen. Mit Ermächtigungsgesten zum Beispiel, mit Gewalt oder mit ausgehandelten und ethisch vertretbaren Kompromissen. Dazu gehört auch: Komplexität meint, es gibt verschiedene begründbare Perspektiven auf eine Sache. Nassehi spricht hier von einer Perspektivendifferenz.

Erlebbar wurde das besonders in den Monaten der Corona-Pandemie. Was man vielleicht auch erst mit etwas Abstand und weniger Belastung wahrhaben kann: Die Situation war eine komplexe. Bei vielen Maßnahmen konnte erst hinterher sichtbar werden, wie und ob sie greifen. Es war im Vorfeld nicht absehbar, welche Effekte Maßnahmen oder Ereignisse haben würden — erst recht nicht in allen Zusammenhängen. Dass ich das Ganze vermutlich nur unzulänglich erklären kann, ist Teil des Phänomens. Anwesende Fachleute mögen es mir bitte verziehen. Die anderen haben vielleicht dennoch eine Ahnung bekommen, was es bedeutet, wenn ich sage, dass diese Situation eine komplexe war.

Kirchenentwicklerisch lässt sich Ähnliches für alle möglichen Phänomene beschreiben: Wie gehen wir mit unseren Immobilien um? Wie geschieht Leitung vor Ort? Wie können neue Mitarbeitende und Engagierte gewonnen werden? Wenn Sie einmal genauer hinschauen, werden Sie merken, wie alles miteinander zusammenhängt. Und wie uneindeutig eine Lösung auf der Hand liegt. Dass sie nur gemeinsam zu erarbeiten ist. Das meint Komplexität. Und so ist es mit vielen Phänomenen in der Gesellschaft. Und auch in der Kirche.

Seit dem Ende des kalten Krieges wird die Rede von der VUCA Welt vom US-Militär benutzt, um verschiedene Phänomene in globaler Perspektive zu beschreiben und zu deuten. VUCA bedeutet: Volatilität und Flüchtigkeit, Ungewissheit und Unsicherheit, Komplexität und Kontextualität, Ambiguität und Mehrdeutigkeit. Alle diese Phänomene hängen zusammen. (In der letzten Zeit hat sich mit BANI ein neuer Begriff durchgesetzt, der noch einmal deutlicher auf die Folgen für das individuelle Erleben schaut: B:rittle (brüchig), A:nxious (ängstlich, besorgt), N:on-linear (nicht-linear) und I:ncomprehensible (unbegreiflich). Ich nenne ihn der Vollständigkeit halber auch hier.)

Dies alles bedeutet auch: Entwicklung und Veränderung müssen anders gefördert werden als bisher. Man weiß in den allermeisten Fällen erst hinterher, was funktioniert hat und viel brutaler: wie etwas zusammenhängt. Kommunikation und Kultur sind entscheidend. Leitungsfunktion bedeutet die Schaffung einer Atmosphäre, in denen Experimente durchgeführt und evaluiert werden können. Eine Umgebung mit vielleicht einer einzigen Sicherheit: nämlich dass verschiedene Perspektive gehört und aufeinander bezogen werden.

Eine solche Situation hat natürlich auch Auswirkungen auf das, was man Kirche zutraut. In jedem Sinn des Wortes. Und von jedem Punkt der Gesellschaft und der Kirche aus. Genau vor diesem Hintergrund ist unsere Frage heute zu stellen. Flüchtig, ungewiss, komplex und ambivalent ist die Situation in der gefragt wird: Kirche, wozu?

Forschende fragen in diesem Kontext: Was kann durch VUCA-Prozesse und in dieser Situation helfen? Und da zeigt sich: Die Welt, wie sie ist, und die Ressourcen, die es dafür braucht, um mit ihr umzugehen, benötigen…Neugier

Neugier, also. Ein drittes.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Neugier, damit meine ich nicht das Lauschen an Türen, das Lesen von Tagebüchern oder Öffnen von Briefen. Und ich meine auch nicht eine Gier, die das Neue um des Neuen will möchte. Es geht nicht um eine billige Neugier, um mir hier einmal diese Qualifizierung bei Dietrich Bonhoeffer zu leihen.

Es geht mir um eine kultivierte Neugier. Eine, die Wissbegierde pflegt. Kreativität fördert. Aber auch eine Offenheit einübt. Und schließlich so etwas wie Toleranz oder besser: Resilienz vermittelt. Mit dem Ungewissen, Überraschenden, Uneindeutigen umgehen kann. Mit diesen Begriffen beschreibt der Zukunftsforscher Carl Naughton Facetten der Neugier — als wichtige Kompetenz, die es in komplexen Zeiten braucht. Es ist eine teure Neugier. Mindestens eine wertvolle.

Denn auch als theologischer Begriff macht die Neugier mich… nun ja… neugierig. Ich frage mich, ob er — vor dem Hintergrund des eben Beschriebenen — dabei hilft zu beschreiben, wozu es eben Kirche braucht. Gerade in diesen Zeiten.

An einem Ort wie diesen darf ich Sie z. B. an die Jahreslosung unserer evangelischen Geschwister erinnern: »Du bist ein Gott, der mich sieht« (nach Gen 16,13) Endlich kommt mit diesem Vers auch einmal eine Frau in diesem Vortrag zu Wort — und wie sie das tut! Hagar beschreibt Gott nämlich genau so: Neugierig. Sie, die sonst übersehen und übergangen wird, wird von der Neugier verwandelt. Wird gefragt: »Woher kommst du und wohin gehst du?« Und kann sich so ihren Problemen stellen.

Gott sieht Menschen, ist neugierig auf sie. Und Menschen fragen nach Gott, mindestens nach Sinn. Nach Hoffnung. Nach Zukunft. Und spätestens seit den großen Mystikerinnen und Mystikern ist auch klar: Menschen fragen nach Gott und dem Göttlichen — in der Welt — auch im Gegenüber in anderen Menschen. Und irgendwie auch in sich.

Ich kann diese Suche und das Gefunden werden fast nicht mehr anders denken als eben… Neugier. Neugier als Begriff, der eine Beziehungsqualität zu sich selbst, zu anderen und zu Gott beschreiben kann.

Gestatten Sie mir eine persönliche Notiz, gerade in die aktuelle Situation dessen, wie viele Kirche verstehen. Immer mehr wird vom Sterben der Kirche oder vom Sterben bestimmter Formen der Kirche gesprochen. Da ist viel Trauer, Zorn, Leugnung, Verhandeln… und wenn dem so ist, mag die Rede von der Neugier wie Hohn klingen.

Neulich sagte eine Psychotherapeutin zu mir: Wenn man schon nicht mehr an die Zukunft glauben kann, sollte man sich darin üben neugierig zu werden, wie die Geschichte weiter geht.

Wie dem auch sei: Neugier ist ein biblisches Motiv, eine Übersetzung der Mystik, eine liturgische Qualität, Gastfreundlichkeit, hat diakonische oder caritative Dimension, zeigt sich in der Solidarität, der Bildung. In der Prophetie. Neugier vielleicht auch als eine Form, wie sich die Heilige Geisteskraft beschreiben lässt. Und wenn es nur in einem Trotzdem ist. Einem, das wenigsten wissen will, wie die Geschichte weitergeht.

Schließlich lässt sich das Motiv der Neugier auch in der dezidiert missionarischen Dimension der Kirche finden. Denn der Missio Dei Gedanke lautet ja: Gott ist neugierig auf die Zukunft mit dem Menschen, und der Mensch gibt Anteil daran in seinem Wirken in der Welt. Damit kann »Deutschland als Missionsland« auch bedeuten: die Neugier der Kirche wieder zu kultivieren. Auf das, was Gott nun vorhat. Eine Neugier auf die Welt, auf die Menschen und auf Gott. Eine, die wissbegierig ist. Kreativ. Offen. Eine, die mit dem Unerwartetem, Unbekannten und Überraschenden umgehen kann. Weil Kirche dadurch nicht nur ihren eigenen Bestand schützt, ihr Wozu klärt, sondern von dem Ort aus, durch den sie geworden ist, den anderen ein Stück näher kommt.

Und wenn ich es sogar noch weiter denke: Diese missionarische Dimension meint auch, dass Kirche ein Raum ist, in dem eine der aktuell wichtigsten Zukunftskompetenzen wie die Neugier reflektiert, beworben, eingeübt werden kann. Und zwar ganz bewusst eine, die Hoffnung auf die Zukunft gibt.

Dazu, Kirche.

Da-zu also Kirche…

Weil die Welt, so komplex wie sie ist, die Neugier braucht. Und weil Kirche ein Ort sein kann, an dem nicht nur gerne gefrühstückt, sondern Neugier kultiviert wird. Weil Gott mit seiner Neugier die Menschen verwandelt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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