Krasse Frauen*

Maria Herrmann
8 min readJun 14, 2023

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Ich wurde gebeten einen Teil der Teilnehmerinnen des diesjährigen Förderprogramms »Kirche im Mentoring« des Hildegardis Vereins am 13.6.2023 in Hildesheim mit zu verabschieden. Das habe ich sehr gerne getan und mir folgende Gedanken gemacht:

Foto von CoWomen auf Unsplash

Ein Erstes

Ich glaube ja, dass man sein Leben lang von den Ferienjobs geprägt ist, die man einmal machen musste. Um ein bisschen etwas zum Taschengeld oder für die Haushaltskasse dazu zu verdienen. Oder — so wie ich — um sich das Studium zu finanzieren. Ich kann diese Prägung jedenfalls bei mir und auch bei anderen beobachten. Eine Freundin von mir hat einmal im telefonischen Kund*innendienst gearbeitet. Heute kennt sie alle Tricks, die man in so einem Gespräch als Kundin gebrauchen kann. Mein Mann hat eine innige Beziehung zu LKW-Rückspiegeln. Er hat sie einmal einen Sommer lang im Schichtdienst zusammengeklebt hat.

Ich kann nur vermuten, dass es bei Ihnen genauso ist. Egal wie lange es her ist und egal, welcher Job es bei Ihnen war, und wenn es die Mitarbeit im eigenen Familienbetrieb war — ich bin mir sicher, dass auch bei Ihnen etwas übriggeblieben ist. Gerade dann, wenn Sie heute etwas ganz anderes machen. Vielleicht gehen Sie mit mir einen Moment in Ihre Vergangenheit. Nur so in Gedanken. Können Sie vier oder sogar fünf Teller mit den Händen balancieren? Geschenke in Rekordzeit verpacken? Finden Sie alle Tipp- und Rechtschreibfehler in einem Text?

Stellvertretend teile ich eine meiner Erfahrungen. Ich habe verschiedene Dinge ausprobiert. Ich war in einer Computerfirma, Bedienung in einer Gastwirtschaft und habe Metallteile in Kisten verpackt. Am längsten aber war ich Aushilfe im Verkauf. Nicht in irgendeinem Laden, sondern in einem Weihnachtsladen. Einem, der das ganze Jahr über offen hat. Und so habe ich während der Sommerferien Christbaumkugeln verkauft. Und Teddybären. Und Kuckucksuhren. Und nach Feierabend ging ich mit Weihnachtsliederohrwürmern nach Hause. Ins Schwimmbad oder in den Biergarten. Nicht in die Weihnachtsbäckerei.

Geprägt haben mich aber nicht nur der Verkauf, die Produkte und die internationalen Kund*innen. Geprägt hat mich eine besondere Sache: Die Erscheinung, die man von mir erwartet hat. Wenn Sie mich heute hier so vor sich sehen, können Sie sich vielleicht nicht vorstellen, dass ich mehrere Jahre in Landhausmode im Geschäft stand. In Japan sollte es sogar das ein oder andere Bild von mir geben. In einer weißen Bluse, darüber eine grüne Weste mit Hornknöpfen. Und ein weiter grüner langer und faltiger Rock. Alles in schweren Leinen. Dazu schwarze einfache Lederschuhe. Am besten mit einem leichten Absatz. Gut für den Rücken, wenn man stundenlang steht.

Geprägt hat mich dieser Job über die Jahre auf vielerlei Weise. Unter anderem auch deswegen, weil ich an jedem Wochenende und in der Advents- und Sommerzeit den ganzen Tag lang etwas anziehen musste, das nicht nur nicht Teil meiner sonstigen Garderobe war oder gewesen wäre. Ich lernte schnell zu schätzen, Arbeitskleidung zu besitzen. Kleidung, die nicht meine war. Es war gut zu wissen, dass ich mir darüber keine Gedanken machen muss. Dass bei den üblichen Attacken im Einzelhandel nicht ich persönlich gemeint bin. Ich konnte Bluse, Rock und Weste am Abend ablegen. Das Äußere hat mich an vielen Tagen geschützt.

Geprägt hat mich aber auch eine besondere Szene in meinem Vorstellungsgespräch für diesen Job, die irgendwie auch etwas mit meinem äußeren Bild zu tun hat. Nachdem wir eigentlich alles geklärt hatten, schien für mein Gegenüber noch eine letzte Frage auszustehen. Die Person blickte auf ihre Liste und sagte: »Normalerweise würden wir jetzt am Ende des Gesprächs noch eine letzte Frage stellen. Aber da Sie ja Theologie studieren, können wir davon ausgehen, dass Sie nicht tätowiert sind.«

Ich habe nicht geantwortet. Es war keine Frage. Und zu diesem Zeitpunkt war ich nicht tätowiert. Aber ich habe mir vorgenommen, dann, wenn ich auf solche Jobs nicht mehr angewiesen bin, mich sichtbar tätowieren zu lassen. Meine Sensibilität für äußere Wahrnehmung und meine innere Stimmigkeit, für Schutz und Ausdruck ist geblieben. Wie meine sehr heimliche Liebe für Kuckucksuhren.

Ein Zweites

Mein beruflicher Weg begann als Aushilfe in einem Weihnachtsladen im schönen Mittelfranken. Mittlerweile bin ich Theologin in Hannover. Etwas mehr als zehn Jahre lang habe ich für das Bistum Hildesheim gearbeitet. Aktuell mache ich eine Pause.

Als ich wenige Zeit nach meinem Studium anfing für das Bistum zu arbeiten, war ich immer noch nicht tätowiert. Obwohl ich es so gerne wollte. Doch hatte ich Sorge, dass das weiterhin nicht so gut ankommt. Die katholische Kirche ist nicht unbedingt bekannt für ihre Großzügigkeit Frauen* gegenüber. Oder allem, was irgendwie auffällt und aus der Reihe tanzt.

In dieser Zeit begegnete ich einer Frau, einer Theologin, deren Körper voll von Tattoo-Motiven ist. Eine, die auch ansonsten ganz bei sich ist. Oder zumindest darum kämpft. Ich darf Sie mit Pastorin Nadia Bolz-Weber bekannt machen, einer lutherischen öffentlichen Theologin und Bestsellerautorin aus den USA. Vielleicht haben Sie ja schon einmal von ihr gehört oder gelesen.

Es war das erste Mal, dass ich in einem theologischen Umfeld jemanden wie sie gesehen habe. Und gehört! »God, please help me not be an asshole, is about as common a prayer as I pray in my life.« Gott, bitte hilf mir dabei kein Arschloch zu sein, ist ihr zufolge eines ihrer üblichen Gebete. Das war meine Sprache. Und ein Gebet, das ich auch echt notwendig habe.

Nadia hat mir etwas sehr wichtige gezeigt: Dass man erst als Führungspersönlichkeit anerkannt werden kann und sich selbst anerkennt, wenn man für sich selbst einen Ausdruck finden kann. Ob mit oder ohne Tattoos. Oder in Landhausmode oder zerrissenen Jeans.

Das hat einen Grund: Man liest, hört und sieht es überall — Unsere Gesellschaft befindet inmitten einer ganzen Reihe von Transformationsprozessen. Und die Kirchen ebenso. Diese Prozesse sind komplex — das heißt: sie sind nicht einfach durchsetzbar. Egal mit wie viel finanziellen Mitteln, oder mit dem besten Projektmanagement. Sie sind nicht einmal hierarchisch lösbar. Das hat damit etwas zu tun, dass die jeweiligen Perspektiven, in denen man auf eine Frage oder ein Problem schaut, so unüberschaubar sind und je nach Perspektive legitime unterschiedliche Ergebnisse für eine Lösung bereitstellen. Und diese Perspektiven lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Der Soziologe Armin Nassehi nennt das Perspektivendifferenz.

Deutlich wurde dieses Phänomen in den Hochzeiten der Corona-Pandemie. Hier gab es Situationen, wie die Schulschließungen z. B. Dabei konnte und kann im Vorfeld nicht eindeutig sein, was eine gute Entscheiden sein würde. Sie werden Ähnliches, vermutlich in kleineren Verhältnissen, auch in Ihrem Alltag spüren: Aus finanzieller Sicht wäre diese Option die beste, inhaltlich jene und mit Blick auf Ihr Team eine dritte. Erwartet wird vermutlich eine vierte Option, und Ihre Vorgesetzte favorisiert eine fünfte Möglichkeit.

Aus diesem Grund sind ausnahmslos alle Führungsaufgaben dieser Tage von Übersetzungsprozessen geprägt: Welche Antworten gibt es aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Probleme unserer Zeit, unserer Gesellschaft und unserer Kirche? Wie kommen diese miteinander in Verbindung?

Ich denke genau aus diesem Grund, aufgrund dieser Eigenschaft der Komplexität, erleben wir an vielen Stellen ein großes Führungsproblem in der katholischen Kirche — weil dort nicht diejenigen zu finden sind, deren Gabe die Moderation von Übersetzungsprozessen ist, sondern solche, denen allzu häufig Dinge übersetzt werden müssten. Und solche Prozesse sind mehr als das derzeitige Modewort Synodalität vermittelt.

Denn letztendlich bedeutet die Komplexität der aktuellen Transformationsprozesse auch: Wie geht man um mit Konflikten? Und Konflikt meint hier nicht nur etwas Negatives. Denn bei diesem Verständnis von Komplexität sind es ja gerade Konflikte (im besten Falle gesunde Auseinandersetzungen), die Übersetzungsprozesse in Gang setzen.

Die Kunst des Leadership in dieser Zeit besteht deshalb im Grunde in der Balance dreier Reflexionen: Die Frage danach, wie gut man sich führen lässt. Die Frage danach, wie gut man sich selbst führt. Und erst dann die Frage danach, wie gut man andere führt.

Diese drei Dinge werden sie in den letzten Monaten ordentlich durchgekaut haben. Ob bei Ihren Praxisprojekten. In ihren Arbeitseinheiten oder in ihren Gesprächen mit den Mentor*innen. Führung heißt in Verbindung bringen, über-setzen. Perspektiven miteinander und sich selbst mit anderen. Und dieses selbst im Innen und Außen.

Ein Drittes

Eines der jüngsten Tattoos, das sich Nadia hat stechen lassen und eines, das ich auch gerne auf meinem Arm hätte, besteht aus zwei hebräischen Wörtern: »eshet chayil«.

Die beiden Wörter entstammen einem Gedicht aus den 31. Kapitel des Buch der Sprichwörter im ersten Testament. In der Einheitsübersetzung beginnt das Gedicht im 10. Vers mit diesen Worten: »Eine tüchtige Frau, wer findet sie? / Sie übertrifft alle Perlen an Wert.« Lesen Sie ihn auf dem Nachhause weg ruhig einmal nach. Er lohnt sich…

Es ist ein Text, der üblicherweise an jedem Shabbat von einer männlichen Person beim gemeinsamen Mahl gesungen wird. Oder von der Person, die diese Rolle in der jeweiligen jüdischen Tradition übernimmt.

Es ist nicht klar, wie »eshet chayil« zu übersetzen ist. Blickt man in die verschiedenen Übersetzungen (auch derer anderer Sprachen) wird das sehr deutlich. Ein Vorschlag ist »tüchtig«. Man kann es auch mit »tapfer« übersetzen, oder mit die »mutige« oder »starke« Frau *. Tüchtig? Tapfer? Das klingt so gar nicht nach heute. Wo verwendet man denn derzeit noch diese Begriffe? Und die Rede von den »starken Frauen«… nun ja. Die ist mir persönlich manchmal zu korrupt.

Korrupt ist meines Erachtens auch die Deutung des Textes. Allzu häufig wird er dafür benutzt, vor allem in besonders frommen Kreisen, um ein Idealbild von Frauen zu zeichnen, ihnen Aufgaben zuzuweisen und sich damit ihrer zu ermächtigen. Eine Frau soll dies tun. Und jenes. Früh aufstehen und sich um alle anderen kümmern, bescheiden den Haushalt führen. Nähen und Stopfen — ganz wichtig. Und dazu ein Business aufbauen. Aber vor allem: schön im Hintergrund stehen. Warum sollte eine Frau*, wie Nadia, sich dann so einen Verweis tätowieren?

Sie ist nicht die einzige, die diese Wörter unter der Haut trägt. Zusammen mit einer ganzen Reihe von anderen Frauen* hat sie sich diese Erinnerung an eine verstorbene Freundin machen lassen. An Rahel Held Evans, die dem Text eine neue Bedeutung gab. Denn man kann ihn auch anders lesen: Er kann ein Lob auf den Alltag sein, wie Rachel festgestellt hat. Und ein Lob auf diejenigen, die diesen Alltag meistern. Es ist kein Pflichtenkatalog für Frauen*, sondern eine Wahrnehmungshilfe dafür, wie Führung im Alltag aussieht. Die einzige gezielte Aufforderung im Text betrifft gar nicht die Frauen*, von denen in dem Text die Rede ist, sondern gilt jenen, die sie umgeben. Die von ihnen profitieren.

Der Text ist ein Segen denen gewidmet, die sich um den Alltag kümmern. Die die jeweiligen Ideale und großen Reden, Bücher und Keynotes und Förderprogramme in den Alltag hineinübersetzen. Der Segen ist ein Segen über Frauen*, die Führung übernehmen. Ein Segen für die, die Führung für sich übernehmen. Und Führung für andere. Selbstführung UND Geschäftsführung. Gerade in den alltäglichen, ungesehenen Aufgaben. Das gehört nämlich alles zusammen.

Führung bedeutet, das Außen und Innen immer wieder in Beziehung zu einander zu bringen. Zu übersetzen. Dazu gehören auch die Schubladen, in die man gesteckt wird. Die Tattoos, die man gerne hätte. Und die Ferienjobs, die noch in einer drinstecken. Die Blusen und Kompetenzjäckchen, die man am Abend auszieht. Die Erwartungen anderer. Und die eigenen.

Führung bedeutet zu übersetzen. Zwischen verschiedenen Positionen und Perspektiven. Um Probleme und Aufgaben zu lösen. Führung bedeutet auch, sich mit den Aufgaben auseinander zu setzen, die einen Alltag ausmachen. Und mit jenen Aufgaben, die sonst keine sieht.

Eshet Chayil – krasse Frau*, so wäre meine Übersetzung.

Ich wollte Ihnen diesen Segen der krassen Frau* heute Abend mitgeben — in meiner Sprache. Wie es mir Nadia und ihre Freundin Rachel beigebracht haben. Denn jetzt, wenn Sie wieder voll in Ihren Alltag eintauchen, wenn Sie ihre nächsten Schritte in ihrem Übersetzen des Gelernten gehen, werden sie ihn gut gebrauchen können. Und ich fasse ihn in meiner Sprache so zusammen:

Von Glück kann eine Kirche reden, wenn sie so krasse Frauen* hat. Sie sind mehr wert als alle Klicks und Likes, als alle Kirchensteuern der Welt. Wie sie sich um die To Do’s kümmern. Und einfach nicht locker lassen. Und auf die Details achten. Gebt ihnen, was sie verdienen! Und lasst sie ruhig mal machen. Auf sie mit Konfetti und Glitzer! Ein Regenbogen soll ihnen leuchten. Die Korken sollen knallen! Ein Feuerwerk soll es für sie geben. Amen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Maria Herrmann
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Written by Maria Herrmann

Thinking about futures. And eternity.

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