
Kultur:schock
Der Begriff Kulturschock bezeichnet den schockartigen Gefühlszustand, in den Menschen verfallen können, wenn sie mit einer fremden Kultur zusammentreffen. Der Begriff wurde von Cora DuBois, einer US-amerikanischen Anthropologin 1951 eingeführt. Kalervo Oberg erweiterte diesen Begriff, um ihn allgemeiner anzuwenden und führte eine Theorie basierend auf vier Phasen (“Honeymoon Phase”, Krise, Erholung und Anpassung) ein. Dies wurde später mit dem U-Modell von Lysgaard und dann mit dem W-Modell beschrieben. (…) Der Begriff Kulturschock (culture shock) beschreibt einerseits den schockartigen Sturz aus der Euphorie in das Gefühl, fehl am Platze zu sein (Zeitpunkt). Zum anderen verwendet Oberg das Wort auch für den gesamten Prozess der Kulturkrise, die ein Mitglied einer Kultur beim Einleben in einer anderen Kultur durchlaufen kann (Zeitdauer).
Dick eingepackt stand ich zu Ostern 2008 in den Straßen der spanischen Universitätsstadt Salamanca. Ich durfte dort, gefördert durch ein Erasmus-Stipendium, für ein Jahr leben und studieren. Zugegeben: Meistens mehr leben als studieren. Während ich in dieser Zeit nur in den Weihnachtsferien zu meiner Familie nach Deutschland flog, wollte ich vor allem Ostern unbedingt in Spanien erleben.
Ich hatte gehört, dass es etwas ganz besonderes sein soll. Die spanische Volksfrömmigkeit entfaltet sich auf eine sehr reiche und vielfältige Weise in der semana santa. In lang vorbereiteten festlichen Umzügen mit beeindruckenden Statuen, die durch Hermandades bzw. Cofradías, also Bruderschaften der Gemeinden der Stadt durch die Straßen getragen werden. Begleitet werden diese durch laute Trommel- und Blaskappellemusik. Mal mit Lichter-, mal mit Blumenprozessionen. Und immer dabei die Penitentes, die mit Kreuzen auf ihren Schultern, wie auch die Nazarenos mit ihrem Büßergewand die Prozessionen barfuss als Bussakt begleiten.
Ostern 2008 war sehr früh im Jahr gelegen und dementsprechend noch sehr kalt und winterlich. Kein Wunder also, dass es dann am Ostersonntag, dem Höhepunkt der Feierlichkeiten, in genau jenem Moment zu schneien begann als die Statue des Auferstandenen der Statue der Mutter Gottes auf dem Hauptplatz der Stadt, dem Plaza Mayor, begegnete — oder vielleicht doch? Der Jubel der Menschenmenge war beeindruckend und unvergesslich. Ich wüsste nicht, dass ich einmal in einer deutschen Gemeinde eine so ausgefallene Freude über die Auferstehung erlebt hätte.
In jedem Fall war es ein besonderes Erlebnis. Ich hatte mich selten in einem kirchlichen Kontext so fremd gefühlt — ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Es war völlig klar: Dass das, was ich erlebte Teil meiner Kirche ist und dass es sich mir erst mal nicht erschließen muss und kann.
Ich fühle mich oft (kulturell) fremd in der Kirche, aber jedesmal ertappe ich mich dabei, mich zu fragen warum oder mich — zumindest innerlich — dafür zu rechtfertigen. Ostern 2008 war mir zum ersten Mal mit Herz und Hirn klar, dass der Kontext der Tradition, die ich erleben durfte, sich von meinem normalen Umfeld so drastisch unterschied, dass ich zugleich Fremde und Zugehörigkeit fühlen durfte und auch konnte.
Diese Perspektive hat mein Nachdenken über Kirche und Kultur nachhaltig beeinflusst und gerade in der letzten Woche ist sie mir zweimal sehr kurz hintereinander wieder in den Sinn gekommen.
Zuerst auf einer Tagung, die sich mit dem Thema »Mission im 21. Jahrhundert« beschäftigt hat. Dort hörte ich Impulse und Vorträge von vielen internationalen Theologinnen und Theologen. Über Mission, die sich nicht nur zu den Völkern, sondern zwischen ihnen ereignet. Wie auch immer man das Gentes aus dem Dekret des 2. Vatikanischen Konzils Ad Gentes über die Missionstätigkeit der Kirche übersetzen sollte. Ich hörte über die Volksfrömmigkeiten in ganz anderen Ländern. Über die Stadtkulturen der Megacities anderer Kontinente und welche Implikationen (»Chancen und Grenzen« anyone?) diese für uns als Kirche mitbringen.
Um ehrlich zu sein: Mit jedem Vortrag wuchs meine Ungeduld. Ich wartete von mal zu mal darauf, dass zur Sprache kommen würde, dass auch hier und jetzt in Deutschland nicht nur das eine Kirchenvolk existiert. Vielleicht nie existiert hat. Dass auch hier Kulturen und Milieus so unterschiedlich sind, dass sie viel von einander lernen können. Ja, und auch, dass sich Prozesse ausmachen lassen, in denen Kirche in vielfältiger Weise entsteht.
Ich dokumentierte meine Irritation auf Facebook und war beeindruckt davon, wie viele Leute darauf reagierten. Scheinbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Doch warum kommen diese Erfahrungen nicht auch an einem so prädestinierten Ort wie einer Tagung zur Mission zu Tage?
Ein paar Tage und ICE Bahnhöfe später als Gast in einer Art postkonfessioneller Gemeindegründung, welche man heute vielleicht mit den Begrifflichkeit der Fresh Expressions beschreiben würde, kam mir Ostern 2008 wieder in den Sinn. Als die Gemeinschaft entstand, musste noch nicht alles frisch und englisch sein. Jene Gemeinde entwickelte sich vor allem im Wunsch grundlegend danach zu suchen, wie Nachfolge in einem bestimmten kulturell geprägten Kontext auszusehen hat. Urban und fair, partizipativ und kunst-voll, achtsam und gastfreundlich. In allem hinterfragend und mit einem hohen Anspruch an Qualität.
Um ehrlich zu sein: Ich fühlte mich sofort wohl — es war fast ein bisschen wie Weihnachten! Es machte mich dankbar, an einem Ort sein zu dürfen, der kulturell dem entsprach, wie ich mein sonstiges Leben lebe. Ich habe erfahren dürfen, wie christliche Gemeinschaft von Modern Performern und anderen aussehen kann. Und ich erlebte, wie stark und gleichzeitig zerbrechlich so eine Community ist — wie nahe das beieinander liegt. Wie wichtig es ist, die Gratwanderung Kultur und Evangelium, Kultur und Gemeinde achtsam anzugehen. Aus vielerlei Gründen.
Für mich, mit meinem kulturellen Hintergrund, man kann auch sagen mit meinem durch verschiedene Faktoren in meinem Leben entwickelten Milieu, sind nahezu alle kirchlichen Veranstaltungen in den Umfeldern in denen ich mich in den letzten 10 Jahren in Deutschland bewegt habe, spanische Osterprozessionen.
Ich bin davon überzeugt, dass ich damit bei weitem nicht alleine bin. Mir ist aber auch bewusst, dass ich in dieser Sache einen sehr aufmerksamen Blick habe—nicht nur, weil ich Ostern 2008 in Salamanca erlebt habe.
So sitze ich also heute über meinen Notizbüchern und staune wie diese beiden Erfahrungen der letzten Woche zusammengehören:
Solange wir nicht anerkennen, dass wir hier schon Gentes — Plural sind, wird Mission immer etwas bleiben für das man einen Interkontinental-Flug buchen muss.
Sichtbar werden die Gentes doch schon in jedem Verband, der sich gründet oder fortbesteht. Mit jeder Familienbildungsstätte, jedem Caritas-Verband, jedem Hilfskreis für Geflüchtete. Es zeigt sich in Jugendkirchen, in christlichen Fussballfanclubs, in einer Vielzahl sogenannter Projekte, die neue Gottesdienstformen entdecken und entwickeln. Und sichtbar wird die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft, in der Kirche besteht, in jeder Straßenbahn, in jedem Supermarkt, in jedem Krankenhaus, in jedem Friseursalon.
Solange wir nicht anerkennen, dass wir auch hier vor Ort lernen können, was Mission heißt, wie sehr sie uns betrifft, wird es schwer werden, neue Wege des Kirche seins zu finden.
Solange wir nicht anerkennen, dass eben dieses Moment, das Mission ausmacht, diese unbändige Kraft des Evangeliums, die dazu aufruft sich erneuern zu lassen, schon längst unter uns wirkt, verlängern wir alte Missionsparadigmen. Bleiben wir beim Ad Gentes. Sind wir keine Kirche auf Augenhöhe.
Mit diesen Gedanken gehe ich nun in die letzten Tage vor Ostern. Mal sehen, wo ich in diesem Jahr feiern werde.