The Last of Us — die Rede vom Wir als Apokalypse

Maria Herrmann
15 min readSep 18, 2023

Mein Vortrag beim Kongress der AG Pastoraltheologie »Wer ist WIR? Fragmentarität in Gesellschaft, Kirche und Pastoraltheologie« am dritten (und letzten Tag). Zuvor hatte Manuela Kalsky über verschiedene Ihrer Projekte und Reflexionen unter dem Stichwort »Vom Fragment zum Rhizom« gesprochen, worauf ich mich immer wieder beziehe.

Zum Einstieg in das Ende bleiben wir in der Umwelt. Ein kleiner Film von und mit Sir David Attenborough — vor über 15 Jahren veröffentlicht im Rahmen von BBC Earth.

Zu sehen war der Pilz-Befall einer Dschungel-Ameisen-Spezies, die sich daraufhin bis hin zu selbstzerstörerischen Tendenzen in Körper und Sinne verwandelt. Der Befall der Ameisen durch die Parasiten sorgt zum einen für die lebensgrundlage des Pilzes, gibt ihm zum anderen die Möglichkeit der Weiterverbreitung.

Eine Schlüsselerkenntnis in diesen 2–3 Minuten für mich: Je größer eine Spezies wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine pandemische Infektion um sich greift. –

Wie sieht eine Welt aus, in der dieser Pilz auch Menschen befällt?

The Last of Us — Spiel und Serie

Dieser Frage geht »The Last of us« nach: Die Menschheit wird von einer Pilzinfektion einer »Cordyceps«-Variante nach einem Evolutionssprung heimgesucht. Diese Infektion verwandelt die Infizierten in aggressive Zombies in verschiedenen Stadien von Aggressivität und Verfall. 20 Jahre nach Beginn der Seuche übernimmt der sympathisch zynische Texaner Joel (Mitte 50) den Auftrag, die junge Ellie aus einer streng überwachten Quarantänezone zu schmuggeln. Sie scheint als einzige immun gegen die Persönlichkeitsveränderung der Infektion zu sein. Und das, was sie immun macht, könnte die einzige Hoffnung der Menschheit sein. So ziehen die beiden durch die postapokalyptischen Vereinigten Staaten. Diese werden vom Militär regiert, das nach dem Ausbruch der Pandemie brutal die Macht übernommen hat. Die meisten Menschen sind in den zwei Jahren ihrer Pilz-Infektion erlegen. Ganz ähnlich wie bei den Ameisen, die wir eben im Film gesehen haben. Einige wenige der Überlebenden, die noch einer Infektion entgangen sind, haben sich als »Fireflies« zusammengeschlossen und bilden eine Art paramilitärische Opposition. Joel und Ellie treffen sie alle auf ihrer Reise: die Zombies, das Militär und die Oppositionellen. Und noch einige andere mehr.

Diese Erzählung von »The Last of Us« ist zunächst als Computerspiel entwickelt worden. Ein Action-Adventure mit Survival-Horror-Elementen, vom »Naughty Dog Studio« entwickelt und von Sony Interactive Entertainment publiziert. Das Spiel ist eine Mischung aus Räsel und Grusel, Action und Kunst. Es wurde 2013 exklusiv für Sonys PlayStation 3 veröffentlicht. Im letzten Jahr wurde mit The Last of Us Part I ein Remake für die PlayStation 5 und etwas später auch als PC-Version veröffentlicht. Innerhalb von drei Wochen wurden weltweit 3,4 Millionen Exemplare der ersten Version des Spiels verkauft. Der Stern-Autor Finn Rütten beschreibt »The Last of Us« als »ein Spiel wie ein Gemälde«. Die Rezensionen nach Erscheinung sprechen von einem »Meisterwerk«, oder einem »naheliegende[n] Anwärter auf das beste Spiel dieser Konsolengeneration«. Es ist bis heute eines der bestbewertesten Spiele der PS3. — Zehn Jahre später ist »The Last of Us« im Januar als Fernseh/Streaming-Serie erschienen. Sie ist nach »Game of Thrones« die zweiterfolgreichste Serie von HBO in diesem Jahr. Im Schnitt haben über 30 Millionen Menschen die Episoden in Erstaustrahlung gesehen.

Die Serie ist eine Erzählung über den Schrecken am Ende einer Welt und darüberhinaus. Eine Erzählung über Verbindlichkeit, manche würden vielleicht eher sagen, von der Verbindung zwischen Menschen. Im folgenden bleiben zwei, drei kleine Spoiler nicht aus. Ich hoffe sie machen eher neugierig, als wütend.

Eine ganze Reihe von Fragen lässt sich im Hinblick auf (hier beziehe ich mich vor allem auf die) Serie »The Last of Us« stellen. Ein paar Ideen dazu:

Formell/formal stellt sich vielleicht die Frage nach dem Einfluss von Videospielen auf Popkultur und Kultur: Wochenlang trendeten Ausschnitte aus der Serie auf den Kanälen sozialer Medien wie TikTok. Sie wurden zu sogenannten Mems, die ab einer gewissen Stelle ein Eigenleben führen. Google hat (bis heute) ein kleines Cordyceps Easter Egg wenn man nach »The Last of Us« sucht.

Auch lässt sich darüber nachdenken, wie Kontextualisierung funktioniert: Eine Spielfilmserie ist kein Videospiel. Wie lässt sich das Gemälde, das ein Videospiel wurde, filmisch umsetzen? Was gilt es zu ändern, wie und vor allem warum? Es ist faszinierend zu beobachten, wie zufrieden die Fans des Videospiels mit den Änderungen im Serienformat waren. das gelingt nicht immer.

Inhaltlich lässt sich über den aktuellen Erfolg der Serie als Verarbeitung von Pandemieerfahrungen nachdenken. Werden hier Szenarien gemalt, die sich der ein oder die andere vielleicht sogar vor dreieinhalb Jahren ausgemalt hat? Ist so eine Konkretion eher hilfreich bei der Verarbeitung oder hinderlich? Für wen und woran lässt sich das festmachen?

Auch einzelne Episoden der Serie bieten Anknüpfungspunkte: Da ist z. B. die dritte Episode, die die Geschichte eines sogenannten männlichen Preppers erzählt. Also eines Menschen, der gar nicht mal so unglücklich über den Untergang der Welt ist. Und der sich darauf auch vorbereitet hat. Die Darstellung, wie er sich in einen wirklich dahergelaufenen Mann verliebt, seine letzten Jahre mit ihm verbringt und was, das mit der Rezeption in den USA macht, ist faszinierend.

Natürlich ist auch die Figur der Ellie (mindestens) aus christlicher Perspektive interessant. Dass ihre Geburt etwas Besonderes darstellt, lässt aufhorchen. Dass es im Verlauf der Serie auch um Fragen von Opfer und Martyrium geht, sollte unter theologisch geschultem Auge keine Überraschung sein. Dass sie im Videospiel eine der ersten weiblich gelesenen Personen war, die nicht sexualisiert wurden und wiederum eine weiblich gelesene Person küssen konnte sei hier dazu noch erwähnt.

Konzentrieren möchte ich mich heute jedoch auf den Titel von Serie und Spiel: »We the People« liest man immer wieder als Plakat auf den Transportern der »Fireflies«, der Guerilla-Opposition, die auch nicht vor immenser Brutalität zurückschreckt. Natürlich ist dies ein Zitat aus der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, die mit einem großgeschriebenen »We the people« beginnt: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Denkwürdig, in diesen Tagen.

Der Titel von Spiel und Serie, »The Last of Us« kommt in den Szenen selbst nicht vor, sondern fungiert als rein funktional als Überschrift. Er ist kein Slogan, kein Narrativ einer der Parteiungen oder einzelner Akteur*innen. Er wird mit jeder Episode neu inszeniert. Die, die übrig geblieben sind — die letzten von uns. Und vielleicht die einzigen, die noch irgendwie etwas tun können. Auch das letzte geben, damit sich überhaupt noch etwas ändern kann.

So ist er heute für mich Anlass über das »Wir und das Letzte« zu sprechen. Warum?

Mehr Apokalypse wagen

Ich möchte den Blick einmal nicht zurück, auf das Jetzt und vorerst auch nicht auf das »uns« lenken (wer auch immer das sein mag), sondern auf die Zukunft. Auf das was sein wird, sein kann. Darauf, welche Krisen uns nicht nur ins (globale, europäische, deutsche, katholische) Haus stehen. Sondern welche bereits da sind. Und so viel von so vielen fordern.

Neben den kirchlichen Themen, die in einer Runde wie dieser vielfältig diskutiert sind, skizziere ich kurz die anderen: Große Teile der Gesellschaft in Deutschland und weltweit befinden sich inmitten fundamentaler Transformationsprozesse. Spätestens mit dem pandemischen Geschehen seit 2020 und dem russischen Krieg in der Ukraine finden sich die Krisen bei uns zuhause wieder. Die ersten Wellen der globalen Klimakatastrophe sind — nicht nur — in den Schlagzeilen der letzten Tage deutlich wahrzunehmen. Bis vor verhältnismäßig kurzem konnten noch weite Teil der deutschen, österreichischen und schweizer Gesellschaft ignorieren, dass sich das Leben drastisch ändert und verändern wird.

So lange man keine chronische Krankheit hatte und auf unser medizinische System angewiesen war. Oder die Bildungs- oder Umweltpolitik der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat. Oder etwas mit Pflege- und Carearbeit zu tun hatte. So lange man keinen landwirschaftlichen Betrieb hatte oder in der Versicherungsbranche arbeitet, solange konnte man vieles ignorieren. So lange man sich nicht als Teil der queeren Community verstanden hat. Oder Spuren einer Migrationsgeschichte in sich trägt. Sicherlich habe ich weitere Ausnahmen vergessen.

Jetzt ist allerdings die Zeit der Stapelkrisen, also jener Krisen, die aufeinander folgen und miteinander verbunden sind, unzählig viele Ebenen haben. Und unzählige Menschen betreffen. Ausmaße, die man nicht überblicken kann. Grundlegende Krisen, die aufeinander folgen. Das private Erleben hat sich in den vergangenen zwei, drei, vier Jahren drastisch verändert: nun kann der größere Teil der Gesellschaft nicht mehr igorieren, dass es fundamentale Veränderungen gibt und geben wird. Dass sich Lebensqualitäten (weiter) einschränken. Der springende Punkt dabei und das, was so ermüdend ist: Diese Veränderungen fordern permanent Entscheidungen von uns. Denn… sie sind komplex.

Wohin schicke ich mein Kind in die Schule? Was heißt das für meine Beziehung mit meiner Partnerin, mit meinem Partner oder Coelternteil(en)? Wie gestalte ich die Pflege meiner Eltern? Wie verbinde ich mein Arbeits- und Privatleben damit? Was heißt das für meinen Wohnraum und Wohnort? Kann ich mir dann noch ein Auto leisten? Brauche ich ein Auto? Will ich eines? Oh, das Kind kann doch auf die Wunschschule? Wie kommt es dahin? Sollten wir eine neue Wohnung…? Sie bekommen eine Ahnung davon: Wenn an der einen Stelle eine Entscheidung gefallen ist, steht sie in noch mehr anderen Bereichen an. Entscheidungen haben allerdings Folgen, die nicht mehr überschaubar sind. Das ist die eine Seite der Komplexität.

Die andere Seite ist die der Machbarkeiten und Erzwingbarkeiten, der direkten Einflussnahme ist vielleicht neutraler formuliert. Die Frage nach Wirkungen und Eindeutigkeiten. Denn selbst wenn Entscheidungen anstehen, ist nicht klar, ob das Entschiedene eine Folge hat und welche.

Denn Komplexität bedeutet, und das vielleicht noch einmal zur Erinnerung:

  • Unübersichtlich und uneinsehbar viele Elemente stehen in einer Verbindung. Denken Sie an Ökosysteme. Denken Sie an Netzwerke.
  • Kleine Eingriffe können eine unkontrolierte große Wirkung erzeugen, große Eingriffe können überhaupt nichts bewirken. Denken Sie an Ökosysteme, aber auch an Interventionen wie eine streikende schwedische Schülerin.
  • Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, Veränderungen haben evolutionäre Dynamiken, sie lassen sich nicht machen, können nur man spricht von Emergenz. Sie sorgt dafür, dass das »Ganze« nur als dynamische Größe verstanden werden kann
  • Es gibt verschiedene Sichtweisen, die eine Berechtigung haben. Dazu kommt, dass man in sich selbst mehrere scheinbar Unvereinbarkeiten in sich vereinen kann. Hier könnte sich ein Diskurs über das Verständis des Fragmentarischen anschließen. Oder auch des Rhyzoms wenn Sie so wollen.
  • Entwicklung sind nicht umkehrbar, sie schreiben Geschichte und Geschichten
  • Zusammenhänge sind nur hinterher nachvollziehbar
  • und keine Voraussagen sind möglich

Dies bedeutet: Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Problemen. Komplizierte Probleme lassen sich geplant bearbeiten. Komplexe Probleme nicht. Selbst ein Problem-, Krisen- oder Katastrophenbewusstsein in dieser Situation bedeutet nicht, dass sich die Fragen durch direktes Einwirken lösen ließen. Überspitzt auf den Punkt gebracht: Kein Expert*innengremium und kein Geld der Welt wird komplexe Probleme direkt lösen können. Denken Sie kurz an Elon Musk und Twitter: Selbst jemand mit dieser Persönlichkeitsstruktur und selbst jemand mit diesem finanziellen Potential bekommt den Laden einfach nicht in den Griff. Dies liegt in der Natur der Komplexität. Sie lässt sich — wenn überhaupt — nur durch Ermächtigung und Gewalt direkt beeinflussen. Dies hat natürlich Folgen für die Bearbeitung von Problemen. Und die Gestaltung von Zukünften.

Bild der Website von Margaret Heffernan entnommen: https://www.mheffernan.com/biography.php

Die Engländerin Margaret Heffernan konzentriert sich auf diese Eigenschaft von komplexen Systemen: Ihre fehlende Voraussagbarkeit. Sie ist Unternehmerin mit einer Reihe von Blicken auf Arbeits- und Lebenswelt. Als solche ist sie Autorin und Keynotespeakerin. Themen wie konstruktive Kritik und Konflikte in der Arbeitswelt z. B., aber auch wie Frauen führen gehören zu den meistgeklickten TED Talks auf YouTube. Heffernans Beschreibung dieser Welt konzentriert sich auf genau diese Eigenschaft: Sie bedeutet das Ende der Berechenbarkeit, das Ende der Zahlen. Prognosen sind nur eingeschränkt zu betrachten, wenn überhaupt als Wahrscheinlichkeiten: Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeiten gibt es nicht mehr. »Jede:r, der sagt, er:sie könne die Zukunft voraussagen, will sie unterwerfen/besitzen« So schreibt sie in Ihrem letzten Buch »Uncharted. How Uncertainty Can Power Change«.

Nach Heffernan ist es damit notwendig mehrere Wege auszuprobieren. Nicht mehr Vorhersage, sondern Vorsorgen zu treffen. Dabei stehen für sie Großzügigkeit und Resilienz im Mittelpunkt. Die Idee der Effizienz funktioniert nicht mehr. Die Viefalt und Vielfältigkeit von Mitteln und Wegen und entsprechend auch die Vielfalt von Aktuer:innen, die als Beteiligte wirken können, sind entscheidend für einen komplexitätssensiblen Umgang mit den Krisen dieser Zeit. Die Unterschiede sind Ressourcen, um es mit meiner Vorrednerin zu sagen.

Komplexität ist übrigens genau der Grund, warum in den letzten Tagen so viel die Rede von Ambivalenzen war: Aufgrund der Perspektivendifferenz entgleitet die Eindeutigkeit. Ein Kongress von Pastoraltheolog*innen kann in den letzten zehn Jahren methodisch Sprünge im Sinne einer fairen Partizipation gemacht haben. Und doch kann es sich auch genau nicht so darstellen. Entscheidend ist — m. E. — an dieser Stelle jedoch nicht, wie es sich jetzt zeigt, sondern welche nun zu entwerfenden Vorstellungen es davon gibt, wie es sich weiterentwickeln sollte. Doch dazu gleich mehr.

Was heißt das nun also, wenn ich hier so zwischen Kompliziertheit und Komplexität unterscheide und davor noch die Erzählung einer mörderischen Zombie-Pilz-Pandemie voranstelle: Warten auf eine mögliche nächste Pandemie und all ihr Horror? Die weiteren Folgen der Klimakatastrophe? Darauf dass unser Care- und Bildungsystem zusammenbricht? Auf weitere Wahlsiege populistischer Faschist*innen und das Ende der Europäischen Union?

Catherine Keller und die Letzten Dinge

Die Theologin Catherine Keller hat sich in ihrem letzten Buch »Facing Apocalypse« einmal mehr mit der Apokalypse beschäftigt. Beinahe schon 30 Jahre nach Ihrem Band »Apocalypse Now and Then«, einem »Feminist Guide to the End of the World«, hat sich Keller einmal mehr der Apokalypse zugewandt. Sie ist Ihnen möglicherweise bekannt als feministische Theologin oder als Prozesstheologin.

Bild der Website von Catherine Keller entnommen: http://catherineekeller.com/ck/about-catherine-keller/

Facing Apocalypse ist methodisch Meditation, inhaltlich legt Keller neben ihr Lesen des alten biblischen Textes der Johannesapokalypse die Schwerpunkte der Krisen dieser Zeit: Dabei spielen Ökologie, Geschlechtergerechtigkeit, Demokratie und Macht, Ökonomie und der Einfluss des Christentums auf diese Bereiche eine Rolle. Dazu beschreibt Keller das Wesen des Apokalypse als »Dream Reading«, als Prophetie im Sinne eines Hervorsagens oder vielleicht besser: Hervorträumens. Es geht also gerade nicht darum, die Endzeiten heraufzubeschwören, um sich als die letzten Gerechten zu inszenieren, wie es gerade fundamentalistisch funktionierende Ideologien auch mit christlichen Vorzeichen immer wieder tun.

»An alarm is not a reqiuem.« schreibt Keller. Ein Alarm ist noch kein Requiem. Und weiter: »To help each other out of the sleepily creeping patterns of species suicide, without just waking into despair: this motivates a ›dreamreading‹ of our apocalypse. And with it, of the Apocalypse. Let the lower case signify the perilous present context, and the upper, the two-millennia-old text. But why put our present tense in touch with the strange surrealism of the ancient Apocalypse? Because it is already at work in current history; and more importantly, because our reading of the connection will help to awaken a collective possibility. Such possibility does not drift on the surface of day-to-day normalcy. Nor do our chances offer themselves as commodity choices. They appear increasingly as last chances. Not ›Endtimes‹ but narrowing options.«

In diesem Sinne möchte ich meine Rede von »The Last of us« verstehen. Als Dream Reading um Gegenwärtiges aufzugreifen und in die Zukunft zu blicken.

Das Wir als Ressource und Funktion — Gestaltung von Veränderung

Wie kann so etwas konkret aussehen?

Seit 2012 experimentiert z. B. die Unesco mit Ideen-Laboren. Immer deutlicher hat sich herausgestellt, dass sich dabei die Frage danach stellt, welche konkreten Zukünfte erarbeitet, skizziert und hervorgesagt werden und wie diese miteinander ins Gespräch gebracht werden können. In der letzten Zeit konzentriert man sich bewusst auf Workshops, die bewusst von den Zukünften her denken und auch deswegen so benannt sind: Damit verbunden ist die Entwicklung von Futures Literacy — Zukünfte Bildung: »Futures Literacy is a capability. It is the skill that allows people to better understand the role of the future in what they see and do. Being futures literate empowers the imagination, enhances our ability to prepare, recover and invent as changes occur.«

Ich habe Ihnen hier einmal eine Karte auf die Folien gepackt um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln, an welchen Orten diese Labore stattfinden. Sie können eine Ahnung davon bekommen wie vielfältig die Themen und Fragestellungen dazu sind und wie vielfältig die Zukünfte sind, die besprochen werden.

Zukünfte im Plural, das haben Sie möglicherweise bei meinem Vortrag schon bemerkt, weil sie von unterschiedlichen Seiten unterschiedlich aussehen. Und weil sie gestaltbar sind. Denn auch das ist ja ein Teil der Komplexität: Einerseits ist nicht klar, wie man direkt auf etwas einwirken kann, andererseits kann man abseitig auf sehr vieles einwirken. Bei der Zukünfte Bildung geht es darum nicht (nur) die Zukunft zu lesen, sondern sie zu schreiben: Literacy meint direkt übersetzt Sprachfähigkeit. Das bedeutet nicht nur zu Lesen, sondern auch zu schreiben. In diesem Fall: Zukünfte bewusst zu nutzen, sie nutzbar zu machen, für sich und andere: konkret zu werden, Kontexualisierungen vorzunehmen und durch Vorstellungskraft zu bearbeiten.

Beispiele wie diese gibt es viele. Oftmals sind sie als Methoden bekannt, nicht selten stecken dahinter beeindruckende Netzwerke: Die Theorie U und das Design Thinking könnten Ihnen bereits bekannt sein. Beide Methoden und Netzwerke, besser vielleicht Ideen und Communities, gehen bewusst auf das Wir als Funktion ein: Die Bearbeitung komplexer Probleme und Fragen wird muss durch eine großzügige Vielfalt von Perspektiven bearbeitet werden. Nur das kann sicherstellen, dass so etwas wie Lösendes entsteht.

Bild der Website von adrienne maree brown entnommen: https://adriennemareebrown.net/

Die Aktivistin, Autorin und Vertreterin des Afrofuturism adrienne maree brown beschreibt Vergleichbares als emergente Strategie: »ways for humans to practice being in right relationship to our home and each other, to practice complexity, and grow a compelling future together through relatively simple interactions. Emergent strategy is how we intentionally change in ways that grow our capacity to embody the just and liberated worlds we long for.«

Für den kirchlichen Bereich ist m. E. und unter bestimmten Gesichtspunkten etwas Ähnliches mit den sogenannten Fresh Expressions als kirchliches Framework beschreibbar. Wenn sie nicht als Ermächtigung verstanden werden, können sie so etwas wie emergente Strategien werden. Die sogenannte Service First Journey lässt sich als eine solche verstehen: Vom 1. Eintauchen und 2. Engagieren in einem konkreten Kontext zu einem 3. Community-Building um dieses Engagement herum, 4. zur Frage nach Glauben und 5. hin zur Entstehung von kontextuellen Ausdrucksformen dieses Glaubens. An allen diesen Stellen ist Komplexitätssensibilität entscheidend. Und alle Abschnitte haben das Potential neue Wirs zu beschreiben.

Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch einen letzten inhaltlichen Hinweis, der mir wichtig erscheint: Mit diesem Schaffen der FreshX ist auch in Jahrzehnte langer und traditionsreicher Diskursprozess beschrieben. Und zwar jener um den Begriff der Mission. Gestern war davon kurz die Rede — interessanter Weise »von außen« zugesprochen. Im Kontext der Anglikanischen Kirchgemeinschaft lässt sich das missionarische Wirken anhand von fünf Merkmalen, den sogenannten »five marks of mission« beschreiben:

  • »To proclaim the Good News of the Kingdom
  • To teach, baptise and nurture new believers
  • To respond to human need by loving service
  • To transform unjust structures of society, to challenge violence of every kind and pursue peace and reconciliation
  • To strive to safeguard the integrity of creation, and sustain and renew the life of the earth«

Was für ein Programm, um Zukünfte zu beschreiben. Dies ist auch der Grund, warum ich so trotz aller Problematik gerne an dem Begriff festhalten würde: Als die Herausforderung von Veränderung und Öffnung. Als Anspruch, konstruktiv an Zukünften zu arbeiten. Und als Auftrag.

Schließlich also… scheint mir für heute also folgendes Gedankenexperiment reizvoll:

Das Wir im Sinne einer Zukünfte Bildung

  1. Ich stelle es mir als hilfreich vor, für einen Moment bewusst kein »Wir« inhaltlich fassen zu wollen. Nicht mal als Fragment. Fragmentarisches verweist auf Inhaltlichkeit. Ein Moratorium also, wenn Sie so wollen.
  2. Ich stelle mir auch vor, dass eine klare Funktionalisierung vom »Wir« in der Zwischenzeit hilfreich sein könnte. Ein Wir — wenigstens exemplarisch, experimentell — nicht ontologisch, ekklesiologisch, inhaltlich, sondern rein funktional. Werkzeug der Zukünfte vielleicht, allerdings für einen Moment mal ganz ohne den Anspruch Zeichen sein zu wollen.
  3. Ich stelle mir auch vor, dass Formen funktionalen Wirs wie in einem Zukünftelabor oder einer Emergent Strategy im Hinblick auf kirchlich zu entwickelnde Perspektiven gerade nicht innerkirchlich zu suchen sind, sondern missionarische Perspektiven — oder wenn Sie eine andere Sprachform benötigen: radikale Offenheit — beinhalten. Dass diese kokreativen Prozesse eher an eschatologischen Ausblicken orientiert sind. In diesem Sinne könnte man möglicherweise von einer Reich-Gottes Perspektive reden.
  4. Ich stelle mir dazu auch vor, dass ein »Wir« nicht (nur) aufgrund von theologischen Idealen Sinn ergibt. Ich würde weiter gehen: Es ist vielmehr eine der letzten Chancen, um derzeitige Probleme in unterschiedlichen Kontexten zu bearbeiten. Das aktive Bearbeiten von Perspektivendifferenzen und das Potential von kokreativen Prozessen sind eine der wenigen Ressourcen eines komplexitätssensiblen Umgangs mit den Krisen dieser Zeit in Kirche und Gesellschaft.
  5. Ich stelle mir vor, dass die Erfahrungen verschiedener funktionaler »Wirs« selbst Ressource für eine Zukünfte Bildung werden könnte. Nicht nur für und mit und trotz Kirche. Sondern in und mit und manchmal sicher auch trotz dieser Welt — in den jeweiligen Kontexten, in denen sich beide zeigen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Photo by Kyle Cleveland on Unsplash

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