Zu voll, zu spät, zu teuer? Was man von der Bahn für die Zukunft lernen kann

Wie Komplexität unser Leben prägt

Maria Herrmann
18 min readJul 3, 2023

Am 29.6.2023 haben die KEB und die EEB Niedersachsens ein gemeinsames Forum in Osnabrück veranstaltet. Es hat unter der Frage »Wie weiter?« Soziologische, pädagogische und friedensethische Perspektiven für eine Gesellschaft im Wandel zusammengetragen. Ich durfte meine Perspektive in einem Vortrag dazulegen. Teile des Vortrags basieren auf dem Aufsatz »Ein Lob auf den verspäteten Zug. Wie Komplexität unser Leben prägt«, der 2000 inspiration: Komplexe Welt im echter Verlag in Würzburg erschienen ist.

Danke für das freundliche Willkommen und die feine Vorstellung. Und vielen Dank, dass ich heute mit Ihnen zusammen über die Deutsche Bahn nachdenken darf. Also eigentlich nicht nur über die Bahn. Sondern darüber, was man von ihr für die Zukunft lernen kann. Um auf ein »Wie weiter« einer Gesellschaft im Wandel nachzudenken.

»Diese zwei Minuten, hätte der Zug für meinen Anschluss doch warten können!« »Warum reserviere ich mir eigentlich einen Platz, wenn dann die Hälfte des Zuges fehlt!« »Wir müssen hier noch auf die Zugführerin warten…«

Wann haben Sie sich das letzte Mal über die Deutsche Bahn geärgert? Vielleicht sogar heute morgen, auf dem Weg hierher. Beim Warten oder beim Umsteigen. Mittendrin in einem Zugabteil. Oder vielleicht fahren Sie auch gar nicht so viel Bahn. Weil diese Ihre ländliche Region gar nicht erreicht. Auch das kann ein Ärgernis sein. »Zug fahren? Das geht hier auf dem Land nicht!« Denken Sie mal — im Stillen — mit mir mit… Was waren Ihre Erfahrungen mit dem Bahnfahren in den letzten Monaten? Wie viel Überraschendes war dabei? Unerwartetes? Wann haben Sie sich das letzte Mal mit jemand anderes über die Bahn unterhalten? War da viel Klage dabei? Oder durchaus auch Überraschung und Positives?

Statistisch zeigt sich: für immer mehr Menschen in Deutschland ist die Bahn Teil ihres Alltags. Das 9-Euro Ticket wurde in den drei Sommermonaten im letzten Jahr etwa 52 Millionen mal verkauft. Und auch das Deutschlandticket scheint einen Nerv getroffen zu haben: Etwa 10 Millionen Abos wurden im Mai ausgestellt, etwa 700.000 davon alleine an Neukund*innen.

Alle Bahn-Reisenden, ob mit oder ohne Abo, sind darauf angewiesen, dass Züge und Wagons technisch überprüft bereitgestellt werden. Dass Lokführende wie Zugbegleitende zur rechten Zeit am rechten Ort sind. Dass Reservierungen funktionieren. Und das Bordbistro geöffnet ist. Auch Gleise und Bahnsteige sollten natürlich frei sein, Weichen funktionieren und die Wetterbedingungen möglichst im jahreszeitlichen Mittel liegen.

Allerdings gewinnt man immer wieder den Eindruck, dass eine Bahnreise eher einem Glücksspiel gleicht: Verspätungen und knappe Umstiegzeiten sorgen regelmäßig für feuchte Hände und erhöhten Puls. Dabei lässt gut begründet die Position vertreten, dass es kaum ein anderes Verkehrsmittel gibt, mit dem man so gut (fern-)reisen und pendeln kann, wie mit der Bahn — sogar der Deutschen. Es ist preisgünstig und schont die Umwelt. Man muss weder lange vorweg durch Sicherheitschecks noch selbst das Steuer übernehmen. Die Zeit der Reise lässt sich für Unterhaltung oder Arbeit gut nutzen. Sie kennen diese Listen möglicherweise. Damit mag ich Sie heute nicht langweilen.

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen auf die Bahn und das Bahnfahren werfen eine zweifache Fragestellung auf:

Erstens kann man sich fragen, warum es nicht so richtig besser wird, mit der Bahn. Wenn sich doch so vieles entwickelt, wenn so vieles besser, schneller und größer wird, wie z. B. durch die Digitalisierung, warum verändert das nicht das Erleben als Kund*in bei der Bahn? Warum klappt es (scheinbar) nicht, die Infrastruktur und Leistung des Verkehrsmittels zu verbessern?

Zweitens fällt in einer grundsätzlicheren Betrachtung auf, wie unterschiedlich die Deutsche Bahn wahrgenommen wird — wie sehr sie polarisiert. Die einen sind leidenschaftlicher Fans des Verkehrsmittels, die anderen meiden sie und sehen in ihr keine ernstzunehmende Alternative für das Auto. Und überhaupt.

Beides (die Frage nach der Verbesserung und die nach der Polarisierung) lässt sich auf dasselbe Phänomen zurückführen, nämlich auf das, was man Komplexität nennen kann.

Weil die Sache mit der Bahn komplex ist, ist ihre Verbesserung nicht so einfach zu bewerkstelligen. Und weil das alles — eben — komplex ist, polarisiert die Bahn und lässt sich (mit jeweils guten Gründen) sehr verschieden bewerten.

Komplexität erklärt aber nicht nur diese beiden Aspekte. Sie ist auch entscheidend für Veränderungsprozesse. Dafür dass Innovationen entstehen. Ein Verständnis von komplexen Zusammenhängen zeigt auf, welches gesellschaftliche Potential in ihr steckt. Wie sehr sie zusammenhängt mit Innovationen und Veränderung.

Die komplexe Gedankenwelt kann also zur Inspiration für ein »Wie weiter?« werden. Auch die komplexe Welt der Bahn. Denn ohne ein Verständnis von dem, was Komplexität meint, erscheint mir Veränderung und die Lösung unserer Probleme kaum möglich. Und das Ganze kann sogar eine spirituelle Dimension einnehmen — wenn man ein paar Aspekte dabei beachtet.

Was ist Komplexität?

Ein paar grundsätzliche Gedanken.

Die Rede von der Komplexität ist heute — mindestens implizit — allgegenwärtig: Nicht nur bei der Bahn, sondern auch in Bundesliga-Spieltaganalysen, in Magazin-Artikeln über Management-Theorien oder Lebensführung, dazu in Diskursen zu globalen Fluchtbewegungen oder der Klimakatastrophe. Hinzu kommt auch das differenzierte Nachdenken über kriegerische Auseinandersetzungen und allem, was dazu gehört. Dazu werden wir ja gleich noch einmal etwas mehr hören. — Auch das Internet, der globale Finanzmarkt oder das Wetter sind Beispiele für komplexe Fragestellungen — und alle diese Bereiche beeinflussen mindestens indirekt unseren Alltag in gehörigem Maße.

Schaut man etwas genauer hin muss man feststellen, dass es selbst in der wissenschaftlichen Beschäftigung keine allgemein gültige Definition von Komplexität gibt. Das Phänomen wird unterschiedlich beschrieben und verschiedene Facetten werden hervorgehoben. Das ist erst mal nicht schlimm, es ist eben komplex — auch mit der Komplexität. Diese Vielfalt hat unter anderem damit etwas zu tun, dass Komplexität an so vielen Stellen, in so vielen Bereichen auftaucht. Dennoch lassen sich durch verschiedene Bereiche hindurch Linien des Nachdenkens ziehen und wesentliche Merkmale ausmachen.

Komplexität und Komplexes hat es (buchstäblich) natürlich immer schon gegeben. Ein Urwald oder jedes andere Ökosystem sind zum Beispiel von Komplexität geprägt. Auch das menschliches Gehirn oder ein Fisch- oder Vogelschwarm. Die Rede von einem komplexen System meint also zunächst einmal das konkrete Zueinander einer unüberschaubaren Menge von einzelnen Akteuren. Dies ist auch der Grund, warum im Zusammenhang mit Komplexität auch der Begriff »System« vermehrt auftaucht: Er beschreibt diese große Menge und ihre Abhängigkeitsverhältnisse.

Dieses Zueinander zeichnet sich durch nicht direkt steuerbare Prozesse aus: In einem Schwarm ist dies das Zueinander der Tiere. In einem Urwald das Zusammenspiel der verschiedenen Lebewesen von Flora und Fauna — und in gewisser Weise auch das Klima. In einem Gehirn die Vielzahl und Vielfalt von Zellen. Bei der Deutschen Bahn sind es die Züge im Güter- und Personalverkehr sowie die Infrastruktur, die es für ihren Betrieb braucht. Dazu zählen Zugführende, Bereitstellungs- und Überführungsprozesse und vieles mehr. Die Sache mit der Bahn ist komplex, weil eine unüberschaubare Menge an Akteur*innen und Faktoren zusammenspielt.

Die Reflexion zu komplexen Systemen setzt in einer Zeit ein, in der man verstärkt auf die Rechenleistung von Computern gesetzt hat. Schnell stellte sich dabei die Frage, ob sich mit diesen immer mächtigeren Instrumenten wirklich auch alles berechnen — und damit eben voraussagen lässt. Mit zunehmender Leistungsfähigkeit wurde deutlich, dass auch die Computer Grenzen haben: Dass es Bereiche, Systeme, Aufgaben gibt, die sich selbst mit einer immer höher werdenden Leistung von Prozessoren und Speicherkapazitäten nicht (voraussagend) berechnen sowie organisieren lassen. Die einen, weil sie ein chaotisches, also völlig unzusammenhängendes Verhalten vorweisen. Die anderen, weil die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Knotenpunkten so vielzählig wie vielfältig sind, dass die kleinste Veränderung ungeahnte Reaktionen hervorrufen kann.

Auch das Netz der Deutschen Bahn lässt sich nicht mehr (alleine) »einfach« durch Computer berechnen: Ein Beispiel dafür ist die Einführung des sogenannten Deutschlandtaktes. Der deutschlandweite Taktplan der Bahn soll das Umsteigen vor allem auf größeren Strecken erleichtern. Die Arbeiten daran dauern seit 2011 an und noch lässt sich nicht genau sagen, bis wann sie abgeschlossen sein können (und eigentlich auch, ob das Projekt jemals ein Ende finden wird). Bis nächstes Jahr will man sich nochmal so richtig eine Vorstellung davon gemacht haben, ob und wie das überhaupt künftig funktionieren könnte.

Komplexe Projekte wie dieses profitieren davon, dass verschiedene Wissensgebiete miteinander kooperieren: Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Betriebswirtschaft, Psychologie, Experience-Design und viele mehr werden dafür miteinander ins Spiel gebracht.

So ist es auch mit der Komplexitätsforschung und der Entwicklung von Lösungsprozessen komplexer Fragestellungen generell. Sie ist geprägt und profitiert von übergreifenden Initiativen verschiedener Bereiche. Und diese Initiativen müssen sich mit folgenden Merkmalen von Komplexität befassen:

1. Komplexe Systeme wie z.B. das der Deutschen Bahn haben eine sehr hohe Anzahl an Elementen, die miteinander in Verbindung stehen und auf eine bestimmte Weise miteinander interagieren.
2. Die Verbindung dieser Elemente ist nicht-linear, das bedeutet, dass auch kleine Eingriffe in die Gesamtdynamik eine ungeheure Wirkung entfalten können.
3. Komplexe Systeme wie z.B. ein Regenwald sind dynamisch und es ist als Ganzes größer als die Summe seiner Teile. Lösungen von Problemen wie auch Veränderungsprozesse, wie z.B. der Erhalt eines Regenwaldes oder die Verbesserung der Deutschen Bahn können nicht einfach beschlossen und eingeführt, »gemacht« oder durchgesetzt werden: Sie entwickeln sich und entstehen aus den Umständen heraus. Fachleute nennen dies auch die »Emergenz« — Entstehung.
4. Ein komplexes System hat eine Geschichte, die in ihm weiterhin besteht. Die einzelnen Elemente entwickeln sich in Abhängigkeit zueinander und mit ihrer Umwelt. Diese Entwicklung ist nicht umkehrbar.
5. Auch wenn ein komplexes System im Nachhinein klar strukturiert und vielleicht sogar in seiner Entwicklung vorhersehbar erscheinen mag, ist es dennoch nicht möglich Voraussagen zu tätigen, weil sich die Bedingungen und das System selbst permanent ändern.
6. Anders als in einem System, in dem es die einzelnen Elemente begrenzt, und auch anders als in einem chaotischen System, in dem es keinerlei Begrenzung gibt, stehen das System und die Elemente in einem Wechselverhältnis, vor allem auf lange Sicht hin. Dies bedeutet, dass sich nicht voraussagen lässt, was passieren kann. Denken Sie an die Deutsche Bahn!

Die beiden Wissenschaftler*innen Mary Boone und Dave Snowden, von denen diese Zusammenfassung wichtiger Merkmale von Komplexität stammt, arbeiten seit über 15 Jahren an verschiedenen Fragen zum Thema. Sie sind damit befasst, wie man komplexe Situationen erkennen und in ihnen agieren lernt. Dafür haben sie in der Politik, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft geforscht und ihre Erfahrungen so aufbereitet, dass sie in der vielfältigen Praxis konkret genutzt werden können.

In einer früheren Arbeit gibt David Snowden zusammen mit Cynthia Kurtz noch drei Aspekte an, die zusätzlich zu beachten sind, wenn es um »Systeme« geht, die mit Menschen zu tun haben. Wenn also große Organisationen, wie z. B. die Kirche, große Firmen oder Teile einer Gesellschaft in den Blick genommen werden.

1. Auch in komplexen sozialen Kontexten muss hinterfragt werden, ob kausale Zusammenhänge bestehen. Dies bedeutet, dass sich keine allgemeingültigen Modelle entwickeln lassen, mit deren Hilfe man absehbares Verhalten und Interventionen erarbeiten kann. Dynamiken im Börsenhandel sowie bei politischen Wahlen oder Referenden lassen sich so erklären.

2. Ähnlich ist es mit Grundannahme von rationalen Entscheidungen. In komplexen sozialen Kontexten kann nicht davon ausgegangen werden, dass Beteiligte in ihrer Wahl zwischen Alternativen, sich für diejenigen entscheiden, die am wenigsten Schmerz und am meisten Lust versprechen. Daher kann das Verhalten, ob individuell oder kollektiv, nicht gesteuert werden, und auch nicht durch ein in Aussicht stellen von Nutzen und Freude. Die oft sehr polarisierten und polarisierenden Reaktionen auf die Klimakatastrophe sind hier vermutlich einzuordnen.

3. Außerdem wird in komplexen Organisationen deutlich, dass mit dem Erwerb einer bestimmten Fähigkeit Menschen in ihren sozialen Kontexten nicht automatisch auch dazu gewillt sind, diese einzusetzen. Bloß weil es Menschen zuhause oder auf ihrer Arbeit gewohnt sind, die Verpackung ihres Frühstücks selbst zu entsorgen heißt das nicht, dass sie dies auch beim Aussteigen aus der Bahn tun.

Komplexität taucht dabei nicht nur in soziologischen oder anderen wissenschaftlichen Überlegungen auf. Sondern spielt vermehrt im Bereich von Organisationsentwicklung und Unternehmensführung eine große Rolle.

Hierbei wird hin und wieder auch der Begriff »VUCA« benutzt. VUCA ist ein englisches Acronym, also eine Zusammensetzung von Anfangsbuchstaben. Hier: Volatilität, also Unbeständigkeit, Flüchtigkeit; Unsicherheit; Komplexität; Ambiguität, also Mehrdeutigkeit. Der Begriff entstand in den 90er Jahren in den Überlegungen des US-amerikanischen Militär. Dabei sollte die multilaterale Welt nach dem Ende des Kalten Krieges beschrieben werden: Die Fronten waren nicht mehr so klar und eine Reihe anderer Entwicklungen sorgte für eine immer größere werdende Unübersichtlichkeit. Später breitete sich der Begriff »VUCA« auch in andere Bereiche strategischer Führung und auf andere Arten von Organisationen aus, vom Bildungsbereich bis in die Wirtschaft. Und so gelangte er auch in die Organisationsentwicklung und Unternehmensführung. Und weil dies immer noch nicht kompliziert genug ist, beginnt gerade ein weiterer Begriff die VUCA-Vorstellung abzulösen. Nämlich BANI — nicht zuletzt die Pandemie-Erfahrungen und der Blick auf die Klimakatastrophe zeigen, dass die Umstände immer brüchiger, nicht-linear und unbegreiflich werden und dabei immer mehr Ängste ausgelöst werden.

Konzentrieren wir uns weiterhin auf den Begriff der Komplexität. In ihm verbergen sich, meiner Meinung nach, alle anderen Eigenschaften und auch Hinweise, die in der VUCA und der BANI Vorstellung verborgen sind.

Komplexität als Lebensraum

Nach diesen grundsätzlichen und sehr allgemeinen Gedanken zu Komplexität, zu VUCA und BANI, möchte ich Ihnen noch ein Instrument in die Hand geben. Ich hoffe, dass es Ihnen dabei helfen kann, einen guten Umgang mit Komplexität im eigenen Alltag zu finden. Ich kann auch das nur anreißen, aber wenn es Sie interessiert finden sie z. B. bei YouTube eine ganze Reihe von vertiefenden Vorträgen. Aber vielleicht helfen Ihnen diese einzelnen Aspekte bereits bei Ihren eigenen Wie-Weiter-Fragen.

Dave Snowden hat die eben beschriebenen Erfahrungen zusammen getragen und mit Mary Boone und vielen anderen ein Schaubild entwickelt, das dabei hilft mit Komplexität umzugehen. Dieses Schaubild hilft mittlerweile auch politischen Entscheidungsträger*innen, z. B. in der EU in Situationen wie in der Pandemie der vergangenen Jahre. Wie sieht dieses Schaubild aus:

»Cynefin«, so der Name, greift die bisher beschriebenen Erkenntnisse der Komplexität-Forschung auf, konzentriert sich dabei auf soziale Strukturen und bettet die Erkenntnisse zur Orientierung in eine Art Landkarte ein, um einen kreativen Umgang mit Komplexität gestalten zu können. Dies ergibt nicht nur Sinn für einen entspannten Umgang mit dem Bahn-Fahren, sondern zeigt unter welchen Bedingungen über ein »Weiter« nachgedacht werden kann.

Das Wort Cynefin ist aus dem Walisischen. Es steht dort für Kultur, Ort, Gewohnheit, Verhalten. Auch Übersetzungen wie Habitat, Terrain, Lebensraum lassen sich finden. Mary Boone und Dave Snowden haben sich bewusst für diesen Begriff entschieden: Cynefin beschreibt die vielfältigen Umstände und Erfahrungen, die Menschen auf eine bestimmte Art beeinflussen. Dabei können sie diese jedoch nicht verstehen, bevor sie sie nicht reflektieren. Snowden hat Cynefin auch mit dem Maori Wort tūrangawaeae verglichen, welches buchstäblich einen Platz zum Aushalten, zum Verweilen, zum Bleiben beschreibt: »Plätze, an denen wir besonders bestärkt und verbunden fühlen. Sie sind unsere Gründung, unser Platz in der Welt, unser Zuhause.«

Im Cynefin Framework wird Bezug genommen auf Sicherheit/Unsicherheit oder Ordnung/Un-ordnung, Kernaspekten von Komplexität. Was meine ich damit?

Viele Management-Theorien oder Bücher über Führung und Leitung gehen noch davon aus, dass Analysen und daraus folgenden Strategie-Entwicklungen zu klaren Entscheidungen führen und Leitung ausmachen. Taucht ein Problem auf, ist es üblich unterschiedliche Optionen einer Reaktion zu analysieren, die bestmögliche davon auszusuchen und diese zu verfolgen. Das klingt irgendwie logisch: Problem — Problemanalyse — Möglichkeitsanalyse — Entscheidung. Damit das funktionert, ist es notwendig, dass man von einem direkten Zusammenhang zwischen Aktion bzw. Reaktion und deren Wirkung ausgehen kann. Das wiederum erfordert, dass ein Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung im Vorfeld klar ist: Eine bestimmte Aktion wird einen bestimmten Effekt erzielen — ein bestimmter Effekt lässt sich auf eine bestimmte Aktion oder Ursache zurückverfolgen, und vor allem vorweg planen. Umgekehrt will man einen bestimmtes Ziel verfolgen, eine bestimme Wirkung erzielen und versucht dafür die entsprechenden Möglichkeiten zu herauszufinden.

Es lässt sich allerdings nachweisen, dass die Komplexität an vielen Orten unserer Gesellschaft so groß ist, dass diese Herangehensweise an ihre Grenzen gekommen ist. Egal ob in der Wirtschaft, der Politik, in Klimafragen, der Kirche — und eben der Deutschen Bahn. Der Ansatz eine Lösungsfindung durch eine vorweggenommene Analyse durch z. B. Expertise funktioniert nicht mehr alleine und absolut. Es zeigt sich im Bereich der Komplexitätsforschung, aber eben auch in der Erfahrung konkreten Lebens, dass es Bereiche gibt, in denen ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht (mehr) eindeutig ist. Oder wenigstens nur im Nachhinein erkennbar ist.

Diese Differenzierung nutzt das Cynefin-Framework: es unterscheidet zwischen geordneten und ungeordneten Bereichen, was vielfach in der Praxis schon einmal hilfreich und vor allem entlastend ist.

So unterscheidet Cynefin: In einem geordneten System ist Verhalten durch Erfahrung oder Analyse absehbar. In einem ungeordneten Bereich funktionieren die Begriffe von Ursache und Wirkung nicht mehr in Vorwegnahme.

Es ist ok, sich in einem ungeordneten Bereich erst einmal hilflos und ausgeliefert oder selbst »unsicher« zu fühlen. Ich finde das persönlich schon einmal sehr entlastend.

In einem geordneten System ist das Verhalten der einzelnen Elemente, bzw. die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung durch Erfahrung oder Analyse absehbar — es »herrscht Ordnung«. Wenn die Ursache offensichtlich ist, spricht man von einem klare (geordneten) System. Lässt sich die Ursache durch Analyse bestimmen, da der Zusammenhang von Ursache und Wirkung zumindest zeitweise nicht offensichtlich ist, spricht man von komplizierten (geordneten) Systemen. Viele Bereiche des Alltags sind durch Ordnung geprägt. Manches ist Routine, anderes kann durch die Hilfe von Expertinnen oder Fachleuten, durch Nachdenken und Forschen gelöst werden. Ein großer Teil Ihres dienstlichen Alltags dürfte in diesen Bereich fallen — nicht alles, aber ein großer Teil. Viele ihrer Entscheidungen dürften durch Routine oder Erfahrung, oder durch Analyse und Recherche fallen. Und es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre — es ist Teil Ihrer und allgemein jeglicher Profession.

Für ungeordnete Systeme lassen sich jedoch im Vorfeld keine Zusammenhänge und Kausalitäten bestimmen. Diese Systeme sind in einigen Fällen stabil und entwickeln sich in ihrem Verhalten und in einzelnen Zusammenhängen durch das Zusammenspiel verschiedener Komponenten und Elemente. In diesem Bereich spricht man zum einen von komplexen (ungeordneten) Systemen. Dort gibt es eine Tendenz sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln oder zu bewegen — sie sind eben emergent und streben zu einer neuen Ordnung. Dieses Streben und Entwickeln, lässt sich nicht direkt steuern. Es besteht keine Möglichkeit direkt einzuwirken, sondern nur indirekt — zum Beispiel durch die Gestaltung von Atmosphären, durch Vermittlungsprozesse, durch Partizipation. Erst im Nachhinein lässt sich dann feststellen und erklären, was funktioniert hat — und was nicht. Eine Analyse dieser Systeme ermöglicht, egal wie gewissenhaft oder umfangreich, keinerlei Vorhersage von Verhalten, Reaktion oder Kausalitäten. Beispiele für diese Fragestellungen und Herausforderungen haben Sie vermutlich in der akuten Pandemie-Zeit erlebt: Sie mussten experimentieren. Wussten häufig nicht, ob Dinge klappen. Gleichzeitig haben sich Dinge, Kooperationen oder Zufälle, einfach so ergeben. Weil Sie ihre Art zu arbeiten variiert haben. Beispiele in anderen Bereichen sind dann zu finden, wenn eine Jazz Band oder eine Basketball-Mannschaft in den Flow kommt — das Improvisieren beginnt.

Schließlich unterscheiden Boone und Snowden zum anderen noch Systeme, die nicht stabil sind und die man als chaotisch (ungeordnet) bezeichnen kann. In diesem Bereich gibt es weder Kontrolle noch Grenzen, das Verhalten ist zufällig. Hinzu kommt in der Cynefin-Karte der Bereich, in dem die Prozesse zu verorten sind, die noch nicht bestimmt und daher nicht einzuteilen sind.

Diese beschriebenen vier oder fünf Bereiche lassen sich auch auf eine andere Weise beschreiben: Geordnete Systeme lassen sich Stück für Stück auseinandernehmen, um sie danach, wie zum Beispiel ein Auto oder ein Eisenbahnmodell, wieder geputzt und geölt zusammenzusetzen. Bei ungeordneten Systemen verhält es sich wie mit einem lebenden Organismus oder ein Urwald — sie lassen sich nicht demontieren oder dekonstruieren und wieder zusammensetzen.

Tom@thomasbcox.com CC BY-SA 4.0 https://en.wikipedia.org/wiki/Cynefin_framework#/media/File:Cynefin_framework_2022.jpg

Es bleibt noch zu ergänzen, dass Systeme an sich nicht immer stabil, und damit auch nicht immer stabil in ihrem Feld einer Cynefin-Kategorisierung sind. Ein System mag zunächst stabil und vorhersehbar sein, doch dieses Verhalten kann sich verändern und die klare Ordnung ursächlicher Wirkung mag zerbrechen.

Die vier Felder klar, kompliziert, komplex und chaotisch sind »Kategorien von Herausforderungen und Problemen« und damit die Grundlage der Cynefin-Karte. Die Felder bilden eine Art Karte für Handlungsoptionen in einer komplexen Welt: Dabei kann sie helfen sich zu orientieren und entsprechend zu Reagieren. Angewandt auf die eingeführten Bereiche der Cynefin-Landschaft lässt sich das Handeln innerhalb eines Systems aus den jeweiligen Bereichen folgendermaßen beschreiben:

Im klaren Bereich besteht Wissen darüber, was zu tun ist und es existiert Erfahrung in der Wahrnehmung, in der Kategorisierung und in der Reaktion, die ein Problem beseitigen. Alle Akteure innerhalb eines solchen Systems teilen dasselbe Wissen, die Lösung eines simplen Problems ist offensichtlich und nicht diskutierbar. Hier sind best-practice Lösungen möglich, es existiert eine »richtige« Antwort, man spricht von bekanntem Bekanntem. So in etwa, wie man früher ein Zugticket am Schalter des nächstgelegenen Bahnhofs kaufen konnte: Es war die einzige und daher auch die richtige, also beste Möglichkeit. Um in unserer Überschrift von heute zu bleiben: So wird es weiter gehen.

Im komplizierten Bereich ist bekannt, was vor sich geht, es existiert möglicherweise eine Erfahrung, auf die man irgendwie zurückgreifen kann, dazu vielleicht auch die Möglichkeit der Analyse und Überprüfung. Es lässt sich z.B. durch Expertise herausfinden, was notwendig ist. Es können kausale Zusammenhänge erkannt werden. Und Gegebenheiten und Möglichkeiten können analysiert werden. Dies bedeutet aber auch, dass das Wissen ungleich verteilt und nicht sofort für jeden Menschen nachvollziehbar ist — Expertise ist hier entscheidend. Dabei gibt es mehr als eine richtige Antwort, die ein Problem lösen kann, so ist es der Bereich der good-practice. Man spricht hier von bekanntem Unbekanntem. Vergleichbar wäre das in etwa mit den heutigen Möglichkeiten eines Ticketkaufs für eine Bahn-Reise: Ob es Sinn ergibt, ein Ticket online, per App oder per Schalterverkauf zu erwerben, hängt von verschiedenen Aspekten ab. Mal ist die eine Option besser oder passender als die andere, je nachdem wie vertraut man z.B. mit den technischen Anforderungen ist oder ob der »Vor Ort Bahnhof« überhaupt noch einen Verkaufsschalter mit Öffnungszeiten besitzt. — So kann es weiter gehen.

Im komplexen Bereich lässt sich vorweg nicht bestimmen, welche Ursache einen bestimmten Effekt erzielen wird. Experimente zeigen die Entwicklungen auf, also das, was man Emergenz nennt. Es ist der Bereich der vielfachen Hypothesen: es gibt keine richtige oder falsche Antwort, verschiedene (auch gleichzeitige) Experimente sowie partizipative Prozesse ermöglichen eine sogenannte soziale oder emergente Praxis. Partizipative Prozesse und eine vielfältige Perspektive spielen hier die entscheidende Rolle. Das Wissen ist in unterschiedliche Perspektiven verteilt, keine Position hat Hoheitswissen. Hier spricht man von unbekanntem Unbekanntem, weil nicht einmal klar ist, dass etwas und was unbekannt ist. Als Beispiel ließe sich vielleicht eine Situation ausmalen, in der man durch ein sehr geringes Budget motiviert am Bahnhof andere Personen anspricht, um gemeinsam ein Länderticket zu erwerben. Wichtig sind hier ein gemeinsames, partizipatives Handeln und die Kreativität, in der Neues ausprobiert wird. Jede Form von sozialer Transformation ist hier einzuordnen: Wenn diese Gelingen soll, muss sie als emergente Praxis eingeordnet werden. Ein Weiter kann es nur dann geben, wenn sich hier nicht nur die Leitungsform, sondern auch die Beteiligung anpasst. — Die Frage ist hier, wo das Weiter eigentlich ist — und wer das entscheidet. Und woraufhin.

Im chaotischen Bereich ist das System nicht stabil, aber es muss reagiert werden, weil ein Aufschub nicht möglich ist. Die Reaktion besteht darin etwas tun, das überprüfen und daraufhin weiter zu reagieren. Dies ist der Bereich der neuen Praxis. Man spricht dabei vom verborgenen Unbekanntem. Eine chaotische Situation wäre, wenn das Netz der Bahn durch durch Unwetter und Umwelteinflüsse unterbrochen werden würde. Alle Bahnen sind zum Stillstand gekommen ist. Und spontane Lösungen entstehen und ergeben sich unter Mitwirkung aller Beteiligten. Ein Schlafplatz, eine Mitfahrgelegenheit oder eine geteilte Tasse Kaffee. Mit Chaos ist dabei dezidiert keine Wertung gemeint, sondern markiert die Dringlichkeit und Notwendigkeit in der gehandelt werden muss in derartigen Ausnahmesituationen. Übersetzt auf heute: Das Weiter ist weit weg, erst mal muss man hier und jetzt klarkommen.

Cynefin hat mir schon oft gezeigt, in welchem Bereich ich mich mit einer Fragestellung befinde. An welcher Stelle ich auf Komplexität treffe. Und wie ich meine eigenen Handlungsoptionen wahrnehmen muss. Ein komplexes Problem kann ich nicht durch mehr Recherche, Analyse und Expertise bearbeiten. Ich muss experimentieren. Und mir andere Menschen suchen, die es mir mit anpacken. Wissenschaftlich hat sich mir gezeigt, dass man Cynefin z. B. als Instrument benutzen kann, um die großen Transformationprozesse der Kirchen zu beschreiben. Um Handlungsoptionen davon ableiten zu können.

Vertrauen und Verantwortung

Warum ist das mit diesen Veränderungsprozessen so anstrengend? Und warum ist das mit der Deutschen Bahn manchmal so anstrengend?

Vielleicht, weil man nicht den Eindruck bekommt, dass sie sich verbessern kann. Vielleicht auch, weil sie polarisiert. Wie so vieles in diesen Tagen.

Ich glaube aber, es kommt noch etwas anderes dazu: Es ist so anstrengend, weil es als Beispiel aus dem Alltag Komplexität am eigenen Leib und im eigenen Kalender erfahrbar macht. Dazu gehört auch immer so etwas wie das Empfinden von Kontrollverlust. Kontrollverlust ist das Gefühl, das entsteht, wenn man realisiert, dass dieser Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht mehr funktioniert. Kontrollverlust ist etwas, das Komplexität im Kern ausmacht und etwas ganz bestimmtes einfordert: Das Vertrauen auf eine Einrichtung, die anders als ein Auto oder Fahrrad schlichtweg nicht durch eine oder einen selbst steuerbar ist. Aber mehr noch das Vertrauen auf etwas, das generell und an sich nicht steuerbar ist.

Was mich persönlich dabei fasziniert ist die Erkenntnis aus der Innovationsforschung, nämlich dass dieser Kontrollverlust und diese Komplexität auch der Ort ist, an dem das Neue, an dem Veränderung entsteht. Das Weiter, wenn Sie so wollen. Weiter geht es nur, wenn sich die einzelnen gesellschaftlichen Player mit Komplexität auseinandersetzen. Ambivalenz erkennen und bearbeiten. Unverfügbarkeit zulassen. Flüchtigkeit akzeptieren.

In diesen Kontexten ist das Forcieren von Wirkung nicht zielführend. Dagegen fördern konstruktive, fehlerfreundliche sowie partizipative Haltungen jene Kreativität, die notwendig ist, damit sich Lösungen entstehen und sich zeigen.

Dies entbindet eine oder einen nicht von der eigenen Verantwortung — ganz im Gegenteil: In komplexen Situationen zeigt sich, wieviel Wohlwollen und Achtsamkeit man für den oder die oder das Andere(n) gerade »übrig« hat. Welche Werte das Handeln bestimmen. Es sind ja gerade die komplexen Herausforderungen, in denen Einzelne einen Unterschied machen können. Dies gilt nicht nur für destruktive Verhalten, sondern insbesondere für konstruktive Haltungen.

Vielleicht sind aber genau diese unangenehmen Momente des Kontrollverlustes so etwas wie… nun ja: »heilig«. Ich für meinen Teil habe mir in der letzten Zeit in einem Zug, der gerade nicht weiter kann, angewöhnt mich zu fragen: Bei was werde ich gerade unterbrochen? Und: wie will ich weitermachen?

Wenn man dem christlichen Theologen Johann Baptist Metz Glauben schenken mag, dann ist es gerade die Unterbrechung, auf die es ankommt. Unterbrechungen sind heilige Momente. Er geht sogar soweit, dass er sagt: Die kürzeste Beschreibung von Religion, von dem, was heilig ist, ist die Unterbrechung. Warum also nicht, kurz vor dem Weiter, sich unterbrechen lassen und durchatmen. Inmitten einer Zugteilung in Hamm.

Und nun unterbreche ich mich — vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Maria Herrmann
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Written by Maria Herrmann

Thinking about futures. And eternity.

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